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Channel: Hinter den Kulissen – Seelenworte
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Five shades of grey (Über Diskurskultur)

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Hallo zusammen!

Wenn ich am Fernseher Netflix schaue, mache ich das mit einem ziemlich alten AppleTV. Und weil das so alt ist, ist auch die Netflix-Software darauf ein wenig aus der Zeit gefallen – und zeigt noch immer etwas, was eigentlich schon lange kein Teil mehr davon ist: Bewertungen von 1 bis 5 Sternen.
Heute sind diese ja eigentlich, ganz gleich ob man über Browser, Smartphone oder anderweitig zeitgemäßem Endgerät drauf zugreift, durch ein einfaches „Daumen hoch“/„Daumen runter“-System ersetzt.
Und darüber wollte ich heute mal mit euch reden. (Und wie sie oft geht es eigentlich am Ende um etwas viel globaleres; vertraut mir. Aber Achtung, es wird am Ende ein ernstes Thema.)

Machen wir mal wieder einen weiten Schritt zurück. Wie schon hier und da mal thematisiert, war Anfang der 90er die erste Ausgabe der Video Games für mich ein Moment der Erweckung, eine Form von Publizistik, wie ich sie vorher nicht gekannt hatte und die ihrerseits in mir die erste Keimzelle bot, aus der dereinst die DORP, dieses Blog und all mein anderes Tun sprießen würden.
Aber schon damals fand sich in diesem Magazin eines, was bis heute relativ unverrückbar Teil des Videospiel-Journalismus scheint: Prozentwertungen.
Und auf den ersten Blick erscheint das System ja auch super intuitiv. Es ist eine offensichtlich klar begrenzte Skala, und offenbar hat ein Spiel mit 89% Spielspaß den Redakteuren besser gefallen als ein Spiel mit 75% Spielspaß.
Allerdings gilt dies wirklich nur für den ersten Blick, denn die ultra-feine Granulierung bringt eigene Probleme. Denn jemand muss diese Wertungen ja geben und dass 75% besser sind als 50% ist klar. Aber wie sieht es mit 76% aus? Was kann ein Spiel tun – oder jedwedes Medium, letztlich – was ein Hundertstel mehr Spaß gemacht hat als der andere Titel? Und wer ist in der Lage, das letztlich zu bemessen? Nicht mal objektiv, sondern alleine schon für einen selbst?1

Netflix nun schienen sich des Problems bewusst und entschieden sich daher für eine Fünferskala. Und eine Fünferskala, das ist keine schlechte Wahl. Indem man mit 1 bis 5 Sternen de facto eine Wahl zwischen Nope / nicht meins / neutral / gut / ich liebe es eröffnet, kriegt man eine durchaus nuancierte, aber eben auch zugleich hinreichend grobe Wertung raus. Natürlich kann jeder die fünf Sterne für sich anders aufschlüsseln, anders benennen. Vielleicht legen unterschiedliche Leute auch unterschiedliche Schwellen an, aber die Eckpunkte haben Bestand. Und die schiere (bei etwas wie Netflix absurd hohe) Nutzermenge dürfte die Interpretations-Unterschiede rausschleifen.
Es ist ein bewährtes System, egal ob man Käufe bei Amazon oder Podcasts auf Netflix bewertet.

Jetzt aber hat Netflix, wie gesagt, das System ja schon vor einer Weile geändert. Befreit von der Schwierigkeit, entscheiden zu müssen, ob der Film nun wirklich eine 5/5 oder doch nur eine 4/5 ist, stehen die Nutzer nun Cäsaren gleich oberhalb der Arena und können den Daumen halt heben oder senken, um Wohlgeneigtheit oder Ablehnung zu signalisieren.
Was aber – und jetzt kommen wir langsam zum Kern – dadurch verloren geht, ist eben nicht nur die Nuanciertheit der Ränder, sondern auch die Mitte. Es ist faktisch unmöglich, mit diesem System einen Film „halt okay“ zu finden; er ist entweder Top, oder Flop.2

Es ist der Verlust jedweder neutralen Position. Entweder der Nutzer ist für den Film, oder gegen ihn. Ich habe letztes Jahr Escape Room gesehen, für mich die Verkörperung eines okay-en Films. Ist er gut? Na ja, kein Meilenstein, aber auch nicht wirklich mies. Aber ist er schlecht? Halt auch nicht.
Angenommen ich hätte den nicht im Kino, sondern auf Netflix geschaut. Angenommen, ich hätte den bewerten wollen.
Ihr erkennt das Problem?

Netflix ist dahingehend (wie übrigens ja auch YouTube, eine der wenigen sozialmedialen Plattformen im weiteren Sinne, die negative „Like“-artige Äußerungen zulässt) natürlich auch durchaus kultureller Spiegel unserer Zeit.
Wie jüngst die Debatten um Star Wars wieder zeigen, erlauben auch beispielsweise Fandoms keine Neutralität, keine mittleren Positionen. Die Filme sind entweder großartig, oder abgrundtiefer Mist, wenn ich dem Diskurs folge. Das ist ermüdend, es ist aber vor allem auch nicht hilfreich.
Natürlich erzeugt das vorgeblich eine sehr einfach zu lesende und klare Metrik. Aber in dieser Abstraktionsstufe geht es nicht mehr um die Abbildung eines echten Meinungsspektrums, sondern um die Formung von Oppositionen, und man kann faktisch zwischen zwei binären Positionen nicht diskutieren, weil ja per se keine gemeinsame Fläche gibt.
Weiß und Schwarz können sich ohne Graustufen nicht auf Kompromisse einigen.
Netflix hatte damals zumindest fünf Schattierungen Grau.
Nun nicht mehr.

Aber – bitte einmal durchatmen – es endet ja nicht mit Fandoms. Bei weitem nicht.
Wisst ihr, was auch ein fünfstufiges System ist? Die Einteilung des politischen Spektrums. Ausgehend von einer (traditionell konservativen) Mitte nach links und rechts hinaus, bis hin zu jeweils den extremen Außenpositionen.
Wenn wir nun aber hingehen, und dieses Spektrum analog zum Bewertungsrahmen oben immer weiter reduzieren, immer weiter runterbrechen bis wir nur noch Links und Rechts übrig haben3, ohne Nuance, ohne Mitte, dann haben wir auch hier unvereinbare Oppositionen geformt und jedwedes Fundament für mögliche Kompromisse zunichte gemacht.
Es ist die Natur des Online-Diskurses, denn extreme Positionen generieren Klicks von Zustimmenden wie Widersprechenden, und an den meisten Orten des Internets generieren Klicks letztlich das Einkommen.
Es ist zugleich aber auch eine völlige Verzerrung der Wirklichkeit. Die Escape Rooms unter den politischen Positionen, deren Pendel nun weder besonders nach links oder rechts ausschlägt, sind plötzlich gezwungen, sich zu positionieren. So wird jede moderat linke Position plötzlich zum Aufmarsch des Marxismus, und jede moderat rechte Position zum Einfalltor des Faschismus.

Wie bei jedem komplexen Spektrum ist es natürlich auch im politischen Spektrum absurd, sich in einem zu feingliedrigen System positionieren wollen. Das sind die Online-Tests, bei denen man dann am Ende weiß, dass man x% Sozialist, y% Marxist und z% Faschist ist – das nützt niemandem.
Aber wenn wir am Ende nur noch eine Grenze ziehen, wenn jedes Gespräch die gegen uns ist, dann verlieren wir die Chance, miteinander irgendwo hinzufinden. Und wenn Kompromisse keine Option mehr sind, wenn wir nicht mal mehr fünf Schattierungen Grau schaffen, dann ist der einzige Weg, die eigene Position zu vertreten, am Ende der, der anderen Position den Garaus zu machen.
Natürlich erzeugt das Konflikt.
Konflikt generiert Klicks.
Klicks verdienen das Geld.

Aber wenn wir nicht irgendwann aus der Advertising Inventory Management-Falle raustreten, wenn wir nicht anfangen, von anderen wieder als komplexe, vielgestaltige Persönlichkeiten zu denken4, wenn wir nicht endlich aufhören, jede gegenläufige Meinung als Angriff auf unsere eigenen Positionen und Person zu verstehen, dann wird dieses seltsame Experiment, das unsere moderne Gesellschaft ist, irgendwann ziemlich hart scheitern.

Das endet im politischen Diskurs.
Aber das beginnt für uns alle in jedem kleinen Austausch, und sei es über so etwas triviales wie die Qualität von Filmen und Spielen.

Fünf Grauschattierungen.
Wenigstens fünf.

Viele Grüße,
Thomas


  1. Der Form halber: Ja, manche Formate versuchen das Problem seit jeher zu begrenzen, indem sie eine Zehnerskala verwenden – aber da diese Skalen nahezu immer mit einer Kommastelle daherkommen, ist es am Ende dann ja doch nur in die eigene Tasche gelogen, denn dann ersetzt man das Problem zwischen 75% und 76% zu differenzieren halt damit, zwischen 7.5 und 7.6 zu differenzieren. 
  2. Ich bin mir bewusst, das Nichtabstimmung eine Option wäre, eine neutrale Meinung auszudrücken. Da es aber faktisch unmöglich ist, zwischen einer Nichtabstimmung als Meinung und einer Nichtabstimmung aus Unlust oder mangelnder Chance zu unterscheiden, spare ich mir das hier an der Stelle mal aus. 
  3. Demokraten und Republikaner, Labour und Tories, etc. Aber tatsächlich auch beispielsweise manifest in allen unsäglichen „Okay, Boomer“-vs-Schneeflocken-Millennial-Diskussionen. 
  4. Imagine others complexely, wie John Green es wundervoll auf den Punkt bringt. 

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